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Floris Cohen (2010 a): „Die zweite Erschaffung der Welt. Wie die moderne Naturwissenschaft entstand“ Campus: Frankfurt, New York, 283 S., ISBN 978-3-593-39134-2 [aus dem Niederländischen von Andreas Ecke und Gregor Seferens (2007) Bert Bakker: Amsterdam]
H. Floris Cohen (2010 b): „How modern Science came into the World. Four Civilizations, one 17th-Century Breakthrough” Amsterdam University Press, XL, 784 S., ISBN 978-90-8964-239-4.
Eine gekürzte Version dieser Rezension erschien in Physik in unserer Zeit, 2011, Jg. 42, Heft 3 (Mai), S. II–III (ISSN 0031-9252).
Während seine namhaften Kollegen in Harvard (P. Galison und S. Shapin) und Berlin (L. Daston) dem Relativismus – der Modeströmung unserer Zeit – verfallen sind, der uns zu lehren versucht, in der Wissenschaft gebe es keine eindeutige Wahrheit und daher könnten Fragen nach wissenschaftlichen Revolutionen gar nicht beantwortet werden, ja es würde sich nicht einmal lohnen, sie zu stellen, ist Floris Cohen einer der wenigen zeitgenössischen Wissenschaftshistoriker, der sich gegen diese bequemen Ansichten stellt. In seinen beiden neuen Büchern hat er sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die grundlegendste Frage der Geschichte der Wissenschaft zu beantworten: ‚Wie entstand die Wissenschaft im Abendland? Bedeutete dies eine Revolution?’ Die gleiche Frage behandelte auch die Rezensentin in ihrem Buch von 2008, „Der Weg der Wissenschaft im Labyrinth der Kulturen“ und zählte sie zu den sieben wichtigsten Fragen der Wissenschaftsgeschichte.
Cohen vertritt die These, dass die Entstehung der Wissenschaft im Abendland solch eine bedeutende Revolution darstellt, dass sie einer „zweiten Erschaffung der Welt“ gleich kam, ein historisches Ereignis, das in der Geschichte der Menschheit einmalig sei.
Sein Werk erschien in drei Versionen: Eine Kurzfassung auf Niederländisch (2007) und Deutsch (2010) für ein breiteres Publikum und eine viel umfangreichere auf Englisch für Fachleute – sie enthält alle bibliographischen Angaben, die der Wissenschaftler benötigt, um seine Aussagen zu belegen.
Der Kern seiner Antwort bildet die Unterscheidung zwischen zwei Arten antiker Wissenschaft: derjenigen im klassischen Athen (6. bis 4 Jh. v. Chr.) und der im hellenistischen Alexandria (ab dem 3. Jh. v. Chr.). Die „alexandrinische“ Wissenschaft bezeichnet Cohen als „abstrakt-mathematisch“ [Cohen (2010a), S. 22] und mit „wenig Realitätsbezug“ (S. 24), während die „athenische“ „auf die Wirklichkeit ausgerichtet“ [Cohen (2010a), S. 24] gewesen sei. Die Vertreter der alexandrinischen Wissenschaft – Euklid, Archimedes, Apollonios von Perga, Aristarch und Ptolemaios – haben rein abstrakte mathematische Leistungen vollbracht, die sich grundsätzlich von denjenigen ihrer athenischen Kollegen unterschieden – von denen Cohen vorwiegend Pythagoras und Platon aufführt. Diese haben ihre Erkenntnisse stets auf die Realität bezogen – indem etwa Pythagoras jedem irdischen Gegenstand eine Zahl assoziierte.
Bedauerlicherweise bemerkt Cohen nicht die Kontinuität zwischen den beiden Wissenschaftsarten, die schon chronologisch aufeinander folgten und sich nicht unabhängig voneinander entwickelten. Alle von ihm zitierten „alexandrinischen“ Vertreter wirkten in Platons Tradition und verwendeten seine Erkenntnistheorie als Grundlage ihrer wissenschaftlichen Auffassung, wie Cohens namhafter Vorgänger E. J. Dijksterhuis (1892–1965) im Falle von Archimedes schon zeigte: Die Welt sei erkennbar durch Mathematik, die als einzige „wahre“ Erkenntnis geben könne, während die Sinneswahrnehmungen nur täuschten.
Durch eine „[kulturelle] Transplantation der griechischen Naturerkenntnis“ [Cohen (2010a), S. 56] hätten sich – erklärt Cohen – die zwei Wissenschaftsarten, die alexandrinische und die athenische, bis in die Neuzeit fortgepflanzt. Im 17. Jh. lösten die zwei Vertreter der athenischen Wissenschaft, Kepler und Galilei, die vom „dringenden Wunsch“ getrieben waren, „eine engere Verbindung zwischen Mathematik und Realität herzustellen“ [Cohen (2010a), S. 105] die wissenschaftliche Revolution aus.
Die moderne Wissenschaft sei aber erst entstanden, als eine „dritte Form der Naturerkenntnis“ aufkam, die weder alexandrinisch noch athenisch mehr war, sondern „auf genaue Beobachtung setzt[e] und sich am praktischen Nutzen orientiert[e]“ [Cohen (2010a), S. 102]. Als deren Urheber sieht der Autor Bacon, Gilbert und Harvey [Cohen (2010a), S. 129], die das „entdeckende Experiment“ anstelle der Beobachtung der Natur einführten.
Leider ist diese Auffassung nicht überzeugend: Sie versucht zwar, sowohl der bisher durch Th. S. Kuhn vertretenen Meinung, die wissenschaftliche Revolution sei durch Newton herbeigeführt worden, gerecht zu werden als auch A. Koyrés Auffassung zu berücksichtigen, der ausschließlich Galilei als Begründer der modernen Wissenschaft ansah, aber Cohen hat seine drei zentralen Begriffe „alexandrinisch“, „athenisch“ und „dritte Form der Wissenschaft“ nicht scharfsinnig genug historisch und erkenntnistheoretisch analysiert und ihre Zusammenhänge weitgehend ignoriert. Der Autor verwendet leider auch die Begriff „real“, „Realität einer wissenschaftlichen Theorie“ ebenfalls fast inflationär und versäumt, sie überhaupt zu definieren.
Trotz dieser Einwände bestechen Cohens Bücher durch die Intensität, mit der er sich dieser äußerst wichtigen Untersuchung widmet, er führt den Leser in einer lebendigen Sprache durch die bedeutendsten Etappen der abendländischen Wissenschaft seit ihrem Beginn und macht ihn vertraut mit einigen der zentralen Fragen der Wissenschaftsgeschichte. Ein Buch, das nicht nur für den Wissenschaftshistoriker, sondern auch für jeden Naturwissenschaftler unentbehrlich ist.
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